Ulrich: Warnung vor "Einübung der Mitleidlosigkeit"
Mit einem vehementen Plädoyer gegen die "Einübung der Mitleidlosigkeit" und für eine "Politik, die tatsächlich so groß ist wie die Probleme", mit der sie zu tun habe, setzte der deutsche Journalist Bernd Ulrich den Schlussakkord der heurigen "Salzburger Hochschulwoche". Die Komplexität der Krisen der Gegenwart würde gewiss ängstigen, es gelte dabei jedoch, der Gefahr der Vereinfachung und der ideologischen Verblendung im Blick auf die Probleme zu widerstehen, mahnte der "Zeit"-Journalist, der neben einer materiellen Krise auch eine "spirituelle" und eine "thymotische" (die Gemütslage betreffende) Krise in den europäischen Gesellschaften ortete: "Wenn wir die Dinge beim Namen nennen würden, würden sie wohl auch weniger Aggression und Ängste erzeugen".
So sei das Gebot der Nächstenliebe zwar weiterhin ein hehres Ziel, jedoch trage es nicht mehr weit, wenn sich diese Nächstenliebe zwar auf den direkten Nächsten anwenden lasse, im Blick auf Fragen wie etwa des Umgangs mit Geflüchteten, die Gerechtigkeit einfordern und die reichen europäischen Gesellschaften mit ihrer eigenen Schuld konfrontieren, dann aber verstumme. Mit der Ankunft der Flüchtlinge und der Armen liege der "Ernstfall der Nächstenliebe" vor - auf die das Christentum keine befriedigende Antwort biete. "Glauben wir denn tatsächlich noch an die Brotvermehrung? Und sind wir tatsächlich noch bereit, die andere Wange hinzuhalten, wenn man uns auf die eine schlägt?", verdeutlichte Ulrich seinen Begriff einer "spirituellen Krise".
Die "thymotische" Krise bestehe indes in einer tiefgreifenden Kränkung der westlichen Welt: In dem Maße, wie der Westen oder Europa seine Vormachtstellung verliere und konkurrierende Ordnungssysteme aufträten, würde dies den westlichen Menschen in seinem Selbstverständnis treffen. Dies gelte etwa auch für die Einsicht, dass der Mensch nicht mehr der glorreiche Bezwinger der Natur ist, sondern diese unter dem Menschen zu Grunde zu gehen droht. Die Folge dieser tiefgreifenden Kränkungen seien nicht nur "Selbstekel", sondern Aggression und Angst, die sich in einer Leugnung von Fakten (Beispiel Klimawandel), in einer "Kritik der Moralität" (Stichwort "Gutmenschentum") oder eben in einer "Einübung in die Mitleidlosigkeit" zeige: "Aus Angst wird so die Aggression gegenüber den Schwächeren".
Wie tief die Verunsicherung reiche, verdeutlichte Ulrich anhand von drei Beispielen: Der politischen Krise in Deutschland, die durch den innerparteilichen Konflikt zwischen CDU und CSU in diesem Sommer ausgelöst wurde; dem frühen Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft, das ein kollektives Schweigen und eine Fokussierung der Schuldfrage auf Mesut Özil zur Folge hatte; und schließlich zeigte Ulrich anhand des "Shitstorms", der sich rund um ein "Pro- und Contra" in der "Zeit" zur Frage der Seenotrettung durch private Organisationen im heurigen Sommer entlud, wie zerrüttet die politische Mitte in Deutschland bereits sei: "Was also tun, wenn die normative Kraft des Normalen nachlässt?"
Marx: Mit Gottvertrauen und Aufklärung gegen die Angst
Grußworte kamen im Vorfeld u.a. vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. Darin plädierte Marx für "Gottvertrauen und Aufklärung als Weg aus der Angst". Nur wenn die Kirche beide Pole - Glaube und Vernunft - zusammenhalte, könne sie "ein Teil der Lösung des Problems sein", mahnte der Erzbischof von München und Freising. Entscheidend sei, dass Zukunft sich aus "Quellen der Vergangenheit" speise - nicht mit dem Ziel eines verklärten Rückblicks, sondern im Sinne einer Vergewisserung, auf welchen Schultern man stehe: "Nicht Restauration ist das Ziel, sondern Renaissance".
Zugleich benannte Marx zwei Gefährdungslagen, die er gegenwärtig feststelle: Die Gefahr einer "Fundamentalisierung, Vereinfachung und Eventisierung von Religion" und die Gefahr einer "Funktionalisierung des Christentums" zu politisch-ideologischen Zwecken. Die "Salzburger Hochschulwochen" würden als Ort, an dem "fides et ratio" zusammenkommen, wichtige Impulse liefern, diesen Gefahren zu widerstehen - daher werde die Deutsche Bischofskonferenz die Hochschulwochen auch weiterhin nach Kräften unterstützen, schloss Marx.
Erinnerung an Gedenkjahr 1938
Der Obmann der "Salzburger Hochschulwochen", Prof. Martin Dürnberger, erinnerte in seinen Begrüßungsworten u.a. an das Verbot der Hochschulwochen vor 80 Jahren: Nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland wurde nicht nur die Salzburger Theologische Fakultät geschlossen, sondern auch der Trägerverein der "Salzburger Hochschulwochen" verboten. Angst, so Dürnberger, sei bereits damals ein "motivationaler Rohstoff" gewesen, mit dem faschistische Systeme operierten, "um Freiheit gegen vermeintliche Sicherheit einzutauschen".
2019: Einfachheit im Fokus
Zum Abschluss des Festaktes gab Erzbischof Franz Lackner schließlich das Thema der nächstjährigen Hochschulwochen bekannt: "Die Komplexität der Welt und die Sehnsucht nach Einfachheit". 2019 wird die Hochschulwoche vom 29. Juli bis 4. August stattfinden.
Autor: Henning Klingen