Islamwissenschaftler Bauer: Trend zu immer mehr Eindeutigkeit
Eine globale Abnahme von "Ambiguitätstoleranz" - also der Fähigkeit, unterschiedliche Meinungen und Anschauungen auszuhalten - hat der Islamwissenschaftler und Essayist Thomas Bauer mehrfach beschrieben. Gerade islamische Gesellschaften hätten sich weg von großer Vielfalt etwa bei den Koranauslegungen "sehr zu ihrem Nachteil" entwickelt, wobei daran auch äußere Einflüsse aus dem Westen eine Rolle spielten, sagte Bauer im Interview mit der Wochenzeitung "Die Furche" (25. Juli): "Sie sind heute von der Ambiguitätstoleranz des klassischen Islams so weit weg wie nie zuvor."
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebe es eine Tendenz hin zu "immer fundamentalistischeren Positionen, der merkwürdigen Idee, man könne einen heiligen Text 'wörtlich' verstehen", wies der Autor des viel beachteten Buches "Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams" (2011) hin. Zuletzt legte der Münsteraner Arabist und Islamwissenschaftler den Essay "Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt" (2018) vor, ein Thema, über das er auch im Rahmen der "Salzburger Hochschulwochen" (29. Juli bis 4. August) sprechen wird.
Bauer beschreibt "Parallelentwicklungen, die es heute in der ganzen Welt gibt", wie er der "Furche" sagte. Angefangen hätten sie im Europa des 19. Jahrhunderts, im "Zeitalter der Ideologien sowie des Imperialismus und Kolonialismus". Und fast die ganze Welt habe immer eindeutigere Positionen entwickelt. "Im 19. Jahrhundert findet man etwa im Katholizismus eine immer stärkere Zentralisierung und Regelung von oben", erinnerte Bauer an das Erste Vatikanische Konzil (1869-70) mit dem dort verabschiedeten Unfehlbarkeitsdogma. Auch in Religionen wie dem Buddhismus oder Hinduismus würden heute radikale, nationalistische Kräfte zunehmen.
Abweichler ernten Shitstorms
Der im Vorjahr auf dem "Philosophicum Lech" mit Essay-Preis "Tractatus" ausgezeichnete Wissenschaftler wies darauf hin, dass in den sozialen Medien abweichende Meinungen heute "sofort durch Shitstorms sanktioniert" würden. Die kompromissbereite Mitte nehme ab. Der Wunsch nach Eindeutigkeit inmitten kapitalistischer Gesellschaften mit ihrer enormen Vielfalt an Konsummöglichkeiten zeigt sich laut Bauer auch am unglaublichen Aufschwung populistischer Parteien, "die vor allem aus dem Impetus heraus existieren, gegen alle anderen zu sein". Er nannte es ein "Drama", dass sich populistische Parteien "erlauben können, was sie wollen; man wählt sie ja nur, weil man gegen die anderen ist". Dabei erfordere die Politik Abwägen und die Fähigkeit zum Kompromiss.
Die Vorstellung "Wenn nur alle Menschen miteinander vernetzt sind, wird sich mehr Demokratie und Meinungsvielfalt durchsetzen" hat sich - wie Bauer sagte - "in ihr Gegenteil verkehrt". Die "Internetblase" sei zur Selbstverständlichkeit geworden, man suche Bestätigung durch Vertreter derselben Meinung. Und weil diese so schnell zu finden sei, sinke die Bereitschaft, sich mit abweichenden Argumenten auseinanderzusetzen - "oder ganz einfach die Fähigkeit, sich auf längere Texte zu konzentrieren" sowie die Fähigkeit, abgewogen zu argumentieren.
Bauer warnte auch vor der heute vieldiskutierten künstlichen Intelligenz: Im Fokus stünden technische Möglichkeiten und - zurecht - auch ethische Probleme. "Aber keiner denkt darüber nach, welche Folgen das für die Mentalität der Menschen hat. Maschinen sind nun einmal nicht ambiguitätstolerant."
Auf die Frage nach Möglichkeiten, dieser Entwicklung gegenzusteuern, schlug Bauer ein "Rezept" vor, das aber wohl "nur leicht schmerzlindernd" sei, nämlich in der Erziehung mehr Augenmerk auf jene Bereiche zu legen, die auf Kreativität ausgerichtet sind: Musik, Kunst, Literatur. Das Hauptproblem bei einem Richtungswechsel sieht der Islamwissenschaftler darin, "dass wir in einer durch und durch kapitalistischen Welt leben, in der alle Menschen auf die Rolle als Produzent und Konsument festgelegt werden, in der der Konsum eine große Ambiguitätsvermeidungsstrategie darstellt".
Die Vorlesung "Wie die Flucht vor Ambiguität Gesellschaft und Kultur verändert" hält Thomas Bauer am 31. Juli um 10.15 Uhr in der Großen Aula der Uni Salzburg. Eine Diskussion darüber folgt am 1. August um 10.15 Uhr ebenda.
Thomas Bauer, Referent der SHW 2019
Quelle: Kathpress