Jüdischer Gelehrter: Russland und Ukraine führen keinen Religionskrieg
23. August 2024 (SHW/KAP-ID) Was lässt sich aus der Geschichte des rabbinischen Judentums und seiner Abarbeitung an gewaltvollen bzw. zu Gewalt aufrufenden Passagen in der Bibel lernen? Zum einen, dass historische Gewalteskalationen in den seltensten Fällen wirklich religiös motiviert sind und waren; und zum anderen, dass selbst in der aktuellen Kriegssituation in Israel weiterhin Gebote rabbinischen Rechts bestimmend sind, die von einem ernsthaften Ringen um die Anerkennung der Würde des Gegners zeugen. Das hat der jüdische Gelehrte und Professor für Jüdisches Denken an der Universität Haifa, Josef Chajes, bei einem Vortrag bei den heurigen "Salzburger Hochschulwochen" betonte, den er im Nachgang der Kathpress zur Verfügung stellte.
Gewiss sei Religion häufig "Teil der toxischen Mischung, die den Massen von zynischen, selbstsüchtigen Regimen verkauft wird", führte Chajes aus. Es sei daher um so wichtiger, dass all jene Menschen, "die das Leben schätzen", gleichzeitig weiterhin ihre religiösen Traditionen "feiern und leben, die die edelsten humanitären Impulse vorleben". Das "Engagement für das Gute und das Leben muss entscheidend sein": "Jeder Gott, an den es sich zu glauben lohnt, müsste dem zustimmen."
Moral sticht Gebot
Seine Darstellung historischer Diskurse im rabbinischen Judentum über den Geltungsanspruch etwa von Tötungsaufrufen in der Thora oder vom bekannten Prinzip "Auge um Auge" und der Todesstrafe mündete schließlich in der Feststellung, dass es in dieser Perspektive nie die Religion sei, die Gewalt legitimiere oder autorisiere, sondern diese stets einer missverstandenen oder verkürzten Interpretation entspringe: "Russland und die Ukraine führen keinen Religionskrieg. Die abscheulichsten Schlachtfelder der modernen Geschichte wurden von säkularen Ideologien gesät. Dies gilt sogar für die Shoah, den Holocaust, den schlimmsten Völkermord der Menschheitsgeschichte, der das Tötungspotenzial des modernen Industriestaats zu seiner schrecklichen Vollendung brachte, an meinem Volk."
Obwohl es ohne die lange Geschichte des christlichen Antijudaismus keinen Holocaust hätte geben können, sei der Massenmord an Juden "nicht aus religiösen Gründen" verfolgt worden. Vielmehr hätte Religion das gegenteilige Potenzial, "einen bedeutenden Beitrag zu Friedens- und Versöhnungsbemühungen zu leisten und den grundlegenden Wert der Heiligkeit des Lebens, des unendlichen Wertes jedes menschlichen Lebens, zu stärken", so Chajes.
Die Besonderheit und wohl auch ein wesentlicher Unterschied zu islamischen Traditionen bestehe im Judentum darin, dass speziell das rabbinische Judentum nicht als "Religion der Hebräischen Bibel" bzw. der Thora missverstanden werden dürfe: Die Rabbiner hätten höchsten Wert auf die mündliche Tradierung ihrer Religion gelegt - nicht "gegen" die schriftliche Thora, sondern in Ergänzung. In der Spitze bedeutet dies laut Chajes: "Um es unverblümt zu sagen, es spielte keine Rolle, was explizit in der Tora geschrieben stand, da die Rabbiner die alleinigen Schiedsrichter ihrer beabsichtigten Bedeutung waren." Dies könne mitunter sogar dazu führen, dass die Rabbiner ihre Moralvorstellungen auch gegen die Schrift durchsetzen. "Der Primat des menschlichen Lebens ist ein Grundprinzip des jüdischen Rechts und ein Kernwert der jüdischen Tradition", so Chajes - was zum Teil bedeuten könne, Gebote zu verletzen - durch Handlung oder Unterlassung -, "wenn dies zur Rettung eines Lebens führt".
Nur Verteidigungskriege erlaubt
Detailliert zeichnete Chajes in seinem Vortrag Beispiele rabbinischer Argumentationen etwa rund um das oftmals als Rache-Prinzip missverstandene "Auge um Auge" oder das Gebot, einen "störrischen und rebellischen Sohn" zu steinigen (vgl. Dtn 21, 18-21). Die vielschichtige Diskussion und letztlich Aushebelung des Gebots im rabbinischen Judentum bedeute jedoch nicht, Thora und mündliche Tradition gegeneinander auszuspielen. Chajes: "Der beunruhigende Aufruf zur Hinrichtung des rebellischen Sohnes erscheint in der Tora aus einem einzigen Grund: den Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre exegetischen Fähigkeiten an Material zu schärfen, das in der realen Welt keine praktische Anwendung findet."
Selbst im Blick auf das Verhalten im Kriegsfall kenne das rabbinische Judentum eine lange Diskussion, die u.a. auf eine "Untergrabung biblischer Imperative zum Führen von Völkermordkriegen" hinausläuft - die aber ebenso zu einem menschlichen Umgang mit den Gegnern im Kriegsfall aufruft. Letztlich münde dieser Diskurs im rabbinischen Judentum in die Feststellung, dass nur Verteidigungskriege erlaubt seien - und auch darin hohe Standards gelten. So verwies Chajes auf einen Korpus rabbinischen Rechts, der bis heute die offizielle Ethikdoktrin der israelischen Streitkräfte präge. Diese laute: "Der Soldat soll seine Waffen und Macht nur zur Erfüllung der Mission und ausschließlich im erforderlichen Umfang einsetzen; er wird seine Menschlichkeit auch im Kampf bewahren. Der Soldat soll seine Waffen und Macht nicht einsetzen, um Nichtkombattanten oder Kriegsgefangene zu schädigen, und wird alles tun, um Leben, Körper, Ehre und Eigentum zu schützen."
Dies sei "natürlich die Aussage eines Ideals" - und er sei sich "traurigerweise bewusst, dass es nicht immer geehrt wurde. Es bleibt dennoch ein Ideal, das durch die Rechtsstaatlichkeit gestützt wird", so Chajes.
Quelle: Kathpress-Info-Dienst vom 23. August 2024